Wie sich der letzte Rückzugsort Europas anfühlt

Der Minivan aus den Neunzigern des letzten Jahrhunderts, auf dessen Rückbank wir sitzen, schwankt die holprige Straße entlang. Ein wenig fühlt es sich an als würde er torkeln nach einer durchzechten Nacht.

So wie wir manchmal, wenn wir uns in Gestalten der Nacht verwandeln und dann im Morgengrauen über den Berliner Asphalt hinweg den Heimweg suchen nach zu vielen Stunden in Bars, wo dicke Rauchschwaden und tiefe Gläser die Augen müde und die Beine verquer gemacht haben. Eine Bar in unserer Straße hat dazu ein passendes Schild vor ihrer Türe aufgestellt: „Wer torkelt, hat mehr vom Weg.“ Zurück auf dem durchgesessenen Rücksitz an diesen Augusttag mitten in der albanischen Pampa wünschen wir uns weniger Torkeln, wenn das bedeutet, dass es den Weg verkürzt.

Zu nachtschlafender Zeit sind wir in Shkodra – im Norden Albaniens – aufgebrochen, um eine lange Reise in die albanischen Alpen anzutreten. Wir schauen aus dem schmutzigen Autofenster auf die Straße, die eigentlich keine Straße ist. Weil es in der Nacht geregnet haben muss, gleicht das Draußen viel mehr einer Schlammschlacht. Tümpelgroße Matschpfützen vor uns, steil aufsteigende Hänge zur einen Seite, steil abfallender Hang zur anderen. Zwei Stunden dauert die erste Etappe, eine haben wir schon geschafft. Der Wind durch den Fensterspalt fühlt sich zugig-frisch an. Am Abend zuvor waren wir noch kurzärmelig flaniert, vor ein paar Tagen an der Südküste Albaniens im Meer schwimmen gewesen, jetzt sind wir froh über die Pullover, die wir bisher als unnütze Gepäckbeschwerer beschimpft und ganz unten in die Rucksäcke gestopft hatten.

Nachdem sich der Kopf endgültig von Gedanken über die Irrsinigkeit dieses Unterfangens gelöst hat, fängt die Fahrt an Spaß zu machen und plötzlich taucht unser Van auch schon ein in einen dunklen Tunnel, der uns schließlich am Ufer des Lake Koman ausspucken wird. Erste Etappe geschafft. Aus dem Dunkeln stolpern nach und nach ein paar Backpacker, die den Weg offenbar zu Fuß zurückgelegt haben. Ein Motorrad mit italienischem Kennzeichen findet sich ein und eine Runde weiterer Minibusse. Der Morgenhimmel ist Grau, der Boden nass. Die Füße der meisten anderen stecken in stabil wirkenden Wanderschuhen, unsere in New Balance und Asics; solchen, die eben auf Großstadtstraßen eine gute Figur machen. Wenigstens eine Australierin kommt in Flip-Flops. Sie trägt ein kleines Buch mit sich, in das sie albanische Wörter geschrieben hat. „Albania is the real shit,“ sagt sie.

Wir lösen ein One-Way-Ticket für die Fähre. Vor uns liegt der Koman-Stausee, der als Stromversorgungsprojekt in den 1980ern entstanden ist. Tatsächlich hat man ein ganzes Tal geflutet, so dass sich während der dreistündigen Fahrt zu beiden Seiten die Berge auftürmen werden. Die Wasseroberfläche kräuselt sich nicht, bildet eine perfekte glatte Oberfläche. Mal sind die Hänge grün bewachsen, man kann kleine Täler vermuten, ab und an kleben vereinzelt Häuser am schroffen Stein, keine Strommasten. Wir sind abgeschieden. 40 Entdecker wie wir, die Crew, das italienische Motorrad und ein paar Fahrräder auf einem gemächlich dahin gleitenden Boot. Wie fühlt sich das hier während eines Gewitters an? Der Gedanke macht einen frösteln. Dann bricht die Sonne durch die Wolken und wir erinnern uns an den Superlativ, den uns ein Reiseführer entgegen geworfen hat: die „allerschönste Bootsfahrt der Welt“ soll das sein. Die Szenerie ist betörend und surreal. Sie hätten hier auch Herr der Ringe drehen können oder Game of Thrones. Alles, was eine Welt nicht von dieser Welt sein möchte, funktioniert hier hervorragend.

Der italienische Motorradfahrer dreht aufgeregt seine GoPro im Kreis, die Australierin flirtet mit unserem „Stuart“, in dem sie ihm ein Kompliment nach dem anderen für die Schönheit seiner Heimat macht und wissen will, was „I like you“ auf Albanisch heißt. Der junge Albaner bleibt unbeeindruckt, der See auch. Noch muss er sich aber auch außer einer Handvoll Reisenden noch keinem Trubel stellen. Überall sonst in Europa würden sich Scharen von Booten durch dieses Tal schieben, bisher hat es Albanien aber noch nicht auf den Radar des großen Tourismus‘ geschafft. 40 Jahre Isolation unter der kommunistischen Herrschaft Enver Hoxhas haben das Land – nur einen Katzensprung von Italien und Griechenland entfernt – in einen Dornröschenschlaf versetzt, aus dem es ab Mitte der 90er Jahre nur zögerlich aufgewacht ist, um seinen Platz zu finden. Immer wieder begegnen uns Menschen, die uns so viel Freundlichkeit entgegen bringen und doch immer wieder überrascht sind, dass wir als Fremde ihr Land besuchen wollen, während viele hier von einer Zukunft außerhalb Albaniens träumen. Das Land hat mit beachtlichen strukturellen Problemen zu kämpfen. Die Armut ist groß, Korruption weit verbreitet. Im europäischen Kontext gelten nur Weißrussland, Russland und die Ukraine als korrupter.*

Wenn Albanien als abgeschieden gilt, dann sind wir in diesem Moment auf dem Weg in die Abgeschiedenheit der Abgeschiedenheit. Nach drei Stunden erreichen wir schließlich Fierze und steigen in einen weiteren Minivan. Alles funktioniert völlig unkompliziert. Informationen findet man in Reiseführern und im Internet kaum, aber wer braucht die schon, wenn er Augen zum Sehen, Hände zum Deuten und einen Mund zum Sprechen hat, auch wenn der kaum Worte in der Landessprache kennt. Zum Glück funktioniert das mit dem Lächeln dann aber an so gut wie allen Orten dieser Welt.

Der zweite Minivan muss nicht über Matsch kurven, sondern bloß bei Sonnenschein durch eine Postkartenbergkulisse. Wir kneifen uns kurz gegenseitig, weil das die Menschen in Büchern auch immer tun. Alles echt. Die Augen reiben wir uns dann höchstens noch aus Gründen der langsam einsetzenden Müdigkeit. Wir verstehen, dass wir offenbar den Namen unserer Unterkunft nennen sollen hier im Valbona Valley, damit wir dort abgesetzt werden können. Bisher haben wir bloß keine und so müssen wir beim ersten Stopp Entscheidungsroulette spielen. Zwei amerikanische Freundinnen steigen an einer einladend aussehenden Lodge aus, alles aus Holz. Vor dem Haus ein Bach, Tische und Stühle, ein Räucherofen. Hier hat sich eine Amerikanerin mit ihrem albanischen Ehemann den Traum von der Alpenunterkunft erfüllt, erzählen die beiden. Wir blicken die menschenleere Straße hoch, können außer Bergen, Bäumen und Einsamkeit aber nichts in der Ferne erspähen. Irgendwann werden sich noch ein paar Häuser auftun, erklärt der Fahrer und schaut uns fragend an. Das hier sieht toll aus, aber was, wenn weiter oben das richtige Abenteuer wartet? Der Jackpot? Wir lachen über uns selbst. Wir stehen in der atemberaubenden Einöde der albanischen Alpen. Keiner unserer Freunde, Freundesfreunde oder Familienmitglieder war je bisher hier. Das Gebiet ist bisher nicht einmal vollständig kartographiert, alles was es bis vor kurzem gab, waren ein paar Karten aus der Sowjetunion anno 1950.

Wir steigen aus und fragen in der Gaststube nach einem freien Zimmer. Catherine, die amerikanische Besitzerin, lächelt und teilt uns eines unter dem Dach zu. Eine Stunde später sitzen wir draußen an einem der Tische vor Tellern mit frisch gefangener Forelle aus dem Bach vor dem Haus und gegrilltem Lamm. Dazu essen wir den traditionellen Shopska-Salat, der auf dem gesamten Balkan weit verbreitet ist und aus frischen Tomaten, Gurken, Zwiebeln und weißem Käse angerichtet wird. Unsere letzte Mission des Tages besteht darin eine Entscheidung über unsere Wanderroute für den nächsten Tag zu treffen. Wieder ist es Catherine, die uns mit Rat zur Seite steht. Seit ein paar Jahren markieren sie und ihr Team Wanderwege und erstellen Karten der Region. Ihre Erzählungen von Bergbesteigungen in Flip-Flops und Übernachtungen auf Anhöhen im Gewitter wirken beunruhigend und beruhigend zu gleich. Gefahr lauert, aber alles ist machbar. Sie lacht über die Bedenken ohne Wanderschuhe angereist zu sein und verabschiedet uns mit einer Karte für eine Wanderung gen Maja e Rosit auf 2000 Meter ins Bett. Wir schlafen in Holzbetten, umgeben von Holz. Alles sieht genau so aus, wie eine gemütliche Berghütte in Vorstellungen aussehen sollte und kostet einen Bruchteil von dem, was es kosten könnte, wären wir jetzt in Italien oder Österreich. Von der Schweiz wollen wir überhaupt nicht sprechen.

Am nächsten Morgen klingelt der Wecker zu unwirtlicher Uhrzeit. Wir schälen uns aus den Federn und ziehen an, was die Rucksäcke an wandertauglichem Equipment hergeben. Unten erwartet uns Rührei, Pfannkuchen und starker Kaffee. Die Lunchpakete sind geschnürt und so sind wir bald schon auf dem Weg. Ein erstes Stück laufen wir mitten auf der Hauptstraße weiter ins Tal hinein. Das stört hier niemanden, außer einer Herde Kühe ist keiner da. Dann verlassen wir die Straße und suchen nach einem abgebrannten Hotel, dem ersten Wegmarker. Dann einem roten Haus hinter dem ein kleinerer Pfad bergauf beginnen soll. Wir irren ein wenig und versuchen unsere Ambitionen nicht schon zu Beginn einzubüßen als wir bemerken, dass wir 30 Minuten über ein schottriges, trockenes Flussbett in die falsche Richtung gegangen sind. Wir kehren um und da ist er plötzlich und eigentlich offensichtlich, der richtige Weg. Aber so ist es ja immer. Am Ziel angekommen, kommt einem vieles halb so schwer vor. Wir gehen sanft bergauf und kommen nach einer Weile bei zwei Häusern an, die auf unserer Karte verzeichnet sind. Hier sehen wir noch einmal Menschen, denen wir zuwinken können. Werden sie sich an uns erinnern, wenn wir im schlimmsten Fall nicht mehr zurückkehren? Gedanken, die schnell verschwinden müssen. Ein Blick auf unsere in diesem Kontext fast schon ironisch anmutenden Lifestyle-Turnschuhe ist nicht besonders hilfreich.

Wir steigen also stundenlang weiter auf und hoffen hinter jedem Hügel ein kleines Bauernhaus zu entdecken, das auf unserer Karte eingezeichnet ist und an dem wir rasten wollen. Die letzten 30 Minuten, bevor es wirklich auftaucht, werden so eine Übung in Hoffnung und Niederschlag. Neuer Hügel, neue Hoffnung, Tempo erhöhen, nichts entdecken, Laut der Enttäuschung von sich geben, weiterlaufen, neuen Hügel ansteuern, Repeat.

All die Ungeduld, sie hilft nicht. Eine weitere Sache, die der Berg uns lehrt. Wir richten den Blick auf den Boden und beginnen uns auf wenige Meter vor uns zu konzentrieren. Plötzlich taucht sie auf, die lang ersehnte Hütte. Ein Wellblechdach, unverputzte Steine, eine schief im Eingang hängende Türe. Vor dem Haus sitzt S., die mit ihrem Mann hier oben lebt. Vier Stunden Aufstieg vom Tal entfernt, muss sich so Abgeschiedenheit anfühlen. Wir sind am letzten Rückzugsort Europas angekommen. Auf der Terrasse vor dem kleinen Haus packen wir unsere Brote aus, S. bringt uns etwas zu Trinken. Schweigend sitzen wir uns gegenüber, sind wir doch der passenden Sprache unmächtig.“Falemenderit“ – Danke – sagen wir zum Abschied. Piramidia 18 heißt unser Ziel, ein Höhenplateau, von dem aus wir auf die angrenzenden Gipfel Montenegros schauen wollen.

Auf schmalen Pfaden schlängeln wir uns nach oben, mittlerweile spürt man die Steine deutlich durch die Turnschuhsohlen. Aber es geht dann überraschend schnell und die letzten Meter rennen wir übermütig wie Kinder, wenn das Klingeln des Eiswagens die Straße entlang hallt. Wie episch der Moment des Ankommens sich anfühlt, dafür sind schwer Worte zu finden. Ist das echt? Sind die Wolken wirklich so nah? Wir strecken die Hände nach ihnen aus und tanzen jauchzend. Wir schießen die obligatorischen Beweisbilder und ziehen die Kapuzen über den Kopf, denn plötzlich ist es windig geworden, trotz Sonnenschein.

All zu lange verweilen wir nicht. Wir versuchen uns satt zu sehen, die Lungen zu füllen mit Bergluft und machen uns dann an den Abstieg. Nach zwanzig Minuten ziehen Wolken auf und es beginnt mäßig zu regnen. Stellenweise wird es rutschig auf Turnschuhsohlen und erneute Fragen nach dem Irrsinn dieses Unterfangens steigen auf. Dann, beim Blick in die majestätische Landschaft, kehrt sie zurück, die Euphorie über genau dieses Unterfangen. Ein konstantes Gefühl der Fassungslosigkeit wird zum treuen Weggefährten. Wir laufen weiter und weiter und weiter. Nach insgesamt elf Stunden ist es vollbracht und wir sind zurück auf der Straße, die wir uns morgens mit der Kuhherde geteilt haben.

Wie kann man sich so lebendig und müde gleichzeitig fühlen?

Die albanischen Alpen entdecken

  • Von Shkodra aus mit dem Minibus zum Staudamm fahren, am besten am Vorabend im Hostel oder Hotel vereinbaren und sich direkt vor Ort abholen lassen.
  • Mit dem Boot über den Stausee fahren, die vermutlich schönste Bootsfahrt der Welt, mit der man nicht rechnet.
  • Campen bei Catherine und Alfred im Rilindja Alpine Rooms, Restaurant and Camping
  • Viele nützliche Informationen findet man auf Catherine’s Webseite Journey to Valbona, zum Beispiel eine Wegbeschreibung, um auf den Maja e Rosit zu steigen.
  • Sind wir zwar nicht selbst gelaufen, aber atemberaubend ist es bestimmt, ganz zu Fuß die albanischen Alpen zu erkunden, am besten entlang dem Peaks of the Balkan Fernwanderweg.

 

*cf. Korruptionsindex von Transparency International 2013

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