Komm einmal her bevor Du für immer gehst

Isfahan, Iran, ♁ 32° 39′ N, 51° 41′ O

Der junge Robert Jeremy Cole wächst im ersten Viertel des 11. Jahrhundert in London auf. Nachdem seine beiden Eltern früh sterben, nimmt ihn ein fahrender Bader als Lehrling auf in einer dunklen, europäischen Epoche der Seuchen und Krankheiten. Nachdem auch der Bader gestorben ist, lernt er bei seiner Arbeit den jüdischen Arzt Benjamin Merlin kennen, der ihm von einem großen Heiler erzählt, der im fernen Isafahan Medizin unterrichtet. Rob macht sich auf den langen Weg gen Osten. Nach zwei Jahren auf der Reise erreicht er Persien und wird schließlich an der Madrassa des Ibn Sina aufgenommen.

In etwa so geht die Geschichte des Medicus, ich habe sie vor vielen Jahren gelesen. (Den Film habe ich nie gesehen.) Vermutlich war ich fünfzehn, also ist das beinahe 20 Jahre her. Und doch sind viele Bilder von dieser Reise geblieben: das dunkle Europa mit seinen stickigen Gassen und den Fäkalien, die die Menschen aus den Fenstern auf die Straße entleeren. Der Verlust der Mutter, die an der Seitenkrankheit stirbt, an einer Blinddarmentzündung. Das Aderlassen, Allheilmittel ohne Heilung. Die Lehrjahre beim Bader und der mühsame Versuch, das Jonglieren zu lernen. Die Begegnung mit dem jüdischen Arzt und die Ablehnung, bei ihm als Lehrling anfangen zu dürfen. Der Entschluss, nach Isfahan zu reisen ist da, als wäre es mein eigener gewesen. Der Aufbruch nach Kontinentaleuropa. Die mühsame Durchquerung der Wüste. Die Hitze, der Wind, der Sand, die Gefahren und die geheimnisvolle persische Sprache. Die Ankunft im sagenumwobenen Isfahan mit seinen Wundern und ungesehenen Bauwerken, aber auch die Pfähle und die Raben und der Durst und die gnadenlosen Sonne. Mit fünfzehn liest man Bücher noch auf eine andere Weise. Sie hinterlassen eine große Sehnsucht, kein Bedauern oder wenigstens Melancholie.

Am 7. Dezember 2017, zwanzig Jahre nachdem ich das Buch aus der Hand gelegt habe, erreichen wir Isfahan. In der Dämmerung haben wir die Ausläufer der Stadt erreicht, und bis wir im Zentrum ankommen, ist es bereits dunkel. Die Straßen sind verstopft, die Autos hupen und die Abgase beißen in der Lunge. Der Taxifahrer schiebt sich in Lücken, die in Deutschland in einhundert Jahren nicht existieren und orchestriert den zähflüssigen Verkehr mit der Hupe wie die tausend anderen Fahrzeuge um ihn herum. Auf eine unerklärliche Weise kreischt kein Blech, das sich ineinander schiebt. Irgendwo auf der Chahar Bagh e Abbasi Straße verabschiedet er uns und wir suchen das Iran Hotel, das sich unweit von hier befinden soll. Als wir die kühle Einganshalle erreichen, atmen wir auf und schleppen unsere Rucksäcke aufs Zimmer und schließen die Augen.

Als wir sie wieder öffnen, stehen wir auf dem Meidān-e Naqsch-e Dschahān-Platz, dem Abbild der Welt, oder auch dem Meidān-e Emām, dem Platz des Imams und ich sehe durch die Augen des jungen Rob Cole und durch die Augen meines jungen Selbst. Eine der längsten Reisen meines Lebens geht zu Ende, von der ich bis dahin nicht einmal etwas wusste.

Der Platz ist weit, Springbrunnen und Wasserbecken liegen in orthogonaler Anordnung zueinander in seiner Mitte zwischen den von den Schritten der Menschen in Jahrtausenden glatt polierten Steinen.  Doppelstöckige Arkaden umfassen den Platz, der zur Zeit seiner Erbauung der größte war, den die Welt je gesehen hatte. An den Schmalseiten im Süden und Norden erheben sich zwei mächtige Eingangsportale, das mit unzählbaren Mosaiken verzierte Eingangstor zur Königsmoschee im Süden und der Zugang zum Basar im Norden. Im Westen überblickt die Hohe Pforte die Steine, Springbrunnen und Wege in Richtung Sonnenaufgang, ihr gegenüber liegt die Scheich-Lotfollāh-Moschee mit dem farbenprächtigen Eingangsportal und der mit kostbaren Kacheln geschmückten türkisen Kuppel, die einen schwindelig macht, wenn man den Kopf hebt.

Die Muster verschwimmen und die Kuppelfliesen ändern Ihre Farbe und sind in einem Moment rosa und dann beige und dann karamellfarben.

Die Wände der Königsmoschee tragen ein leises Wort zur Kuppel hinauf und werfen es von da vielfach verstärkt in einem tausendfachen Echo zurück wie das Wort Gottes tausendfach in die Welt getragen wird.

Die Muster und Fäden der Teppiche im großen Basar sind unendlich wie das Universum, wie der Goldschmuck, wie die Gewürze, das Porzellan und das Stimmengewirr.

In der Ferne liegen die sandfarbenen Berge, die sich im Sonnenuntergang rot färben.

Und doch spotten die Beschreibungen dem Glanz und der Größe und dem Alter des Meidān-e Naqsch-e Dschahān. Unser bester Versuch bleibt vielleicht der Satz: „Komm einmal her, bevor Du für immer gehst.“

 

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