Wasted in Wester Ross

Als ich nach dem Schuhe binden den Kopf wieder nach oben nahm, lag die Passstraße nicht nur im Nebel, sondern wankte. Ein Hirsch sah mich aus großen Augen an und verstand nicht, was ich von ihm wollte. Ich fühlte mich ihm ganz nah. Kurz zuvor hatte ich ihn noch für ein Graffiti gehalten. Das Gebläse des Gewächshauses dröhnte von der Seite. Die junge Engländerin mit dem noch immer gleichen Nirvana-Shirt vom Vorabend schleppte sich in Richtung der Toiletten, orthogonal kreuzte sie eine korpulente Frau mit einem kleinen Hund an der Leine. Zwei alte Damen bauten ihr Zelt ab, auf das es trotzdem unablässig herunter regnete. Das Wasser lief ins Grass und weichte die Erde auf. Hinter den Kiefern wogte das Meer unaufgeregt. Ein Brite putzte sein Fahrrad im Aufenthaltsraum des Campingplatzes. Dem feinen Regen war es egal, dass Livia versuchte, unter der Heckklappe des Bus Kaffee zu kochen, er fiel in einem 30° Winkel und tränkte den Holzboden, der es dem Regen nicht dankte.

In der Applecross Inn fegte die korpulente Besitzerin gerade die Überreste der vorherigen Nacht zusammen, als der kalte Motor des T4 mit dem Anstieg begann. Die Straße folgte wie schon an eintausend Tagen zuvor der Route der Kleinbauern, die eintausend Jahre die Schafe über den Pass getrieben hatten. Die Vegetation wurde spärlich und karg wie der zusammengekehrte Dreck auf dem Boden der Inn an der Stelle, an der am Vorabend die Jugendlichen Lieder gespielt hatten. In unendlicher Wiederholung drehte sich die junge Frau zur Seite, als ihr Partner, der hoffnungsvolle Zwanzigjährige mit der Gitarre und der Tenorstimme sie zu küssen versuchte. Nichts blieb uns verborgen, den Beobachtern. Die Dorfgemeinschaft und Touristen nahmen zunächst keine Notiz davon: Der kleine Ort war der jungen, groß gewachsenen Frau mit den schönen Zügen, den langen, dunklen Haaren und der Zigarette in der Hand zu klein geworden. Das war für uns leicht zu bemerken. Die Abgeschiedenheit war ihr zu eng geworden, und doch war sie ein Kind der kleinen Ortschaften zwischen den Bergen und dem Meer. Ob sie sich in der großen Stadt zurecht finden würde, war nicht klar. Ob sie der Widerspruch zerreißen würde, später einmal, nach den Jahren des Exodus, würden wir nicht erfahren. Die Geige des Freundes des Zwanzigjährigen spielte eine traurige Melodie, die leichtfertig durch das durch den Raum fegende Stimmengewirr wob.

Wir saßen am anderen Ende der Theke in dem schlauchartigen Raum, aber wir waren doch ein Teil des Treibens. Ein Gruppe Motorradfahrer trank an einem großen Tisch hinter uns mit uns um die Wette, ohne davon zu wissen. Der Gin von der Isle of Skye tat sein übriges zu den Bieren, die uns der Dreißigjährige mit den blonden, ungepflegten Haaren und den groben Fingern auf das Holz des Tresens donnerte. Er würde im Gegensatz zu dem jungen Sänger und seiner Freundin immer hier bleiben. Derweil nahm ein Tourist die Geige, nachdem er sich Mut angetrunken hatte. Er konnte den jugendlichen Musikern aber nicht das Wasser reichen. Die störten sich nicht daran, denn sie hatten sich an einen frei gewordenen Tisch zurückgezogen und rauchten, tauschten Geschichten aus und lachten.

Ein Mädchen zupfte plötzlich an einer Harfe. Mit dem Flageolettton der Harfe verzog sich Nebel auf dem Abstieg vom Pass. Die Masten einer Stromleitung zogen in gerader Linie hinab, die Straße und die Flussläufe wandten sich hingegen in vielen Kurven den steilen Abhang hinunter. Schroff ragten die Berge zu beiden Seiten in die Höhe. Ein Seeadler zog seine Kreise, und an der Rückseite der Kneipe jagte die Katze eine Maus, ließ sie noch einige Male entkommen und beendete schließlich das Leben des armen Tiers.

Am Abend nahmen wir uns zum ersten Mal in fünf Wochen ein Zimmer in Ullapool. Die Kälte und die vorangegangene Nacht zollten ihren Tribut. Alles hat seinen Preis, sagte ein Mann noch in einer Eckkneipe in Berlin zu seinem Saufkumpanen.

Eine Nacht in Applecross in Wester Ross

  • Wirklich gut kann man in der Applecross Inn zu Abend essen.
  • Mit etwas Glück kommt man am Wochenende hier an, die Einheimischen treffen sich und vermischen sich mit den Touristen. Als wir dort waren, war gerade ein Craft Race und die kleine Inn platzte aus allen Nähten. Wir hatten einen fantastischen Abend.
  • Empfehlen können wir den Gin von der Isle of Skye, an den genauen Namen können wir uns aber nicht mehr erinnern.
  • Gleich am Ortseingang findet man den Applecross Campsite, von dort geht ein beleuchteter Weg ein Stück durch den Wald bis in den Ort und zur Kneipe.

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