Giovinazzo, Italien, ‎41° 11′ N, 16° 40′ O.

Das Glück eines Jungen ist einfach gestrickt und fragil. Es ist der Moment des Fußballspiels auf dem Dorfplatz oder einem der öffentlichen Plätze der Stadt an einem späten Sommerabend in jungen Jahren. Die Zeit verstreicht dann nicht mehr und befindet sich in Auflösung. Alle Töne werden eins, ein sanftes Murmeln, das aus den vorüber fahrenden Autos gemacht ist, dem Singen der Vögel und dem Rauschen der Blätter in den Baumwipfeln und in das die Rufe der Mitspieler und das Schleifen der Füße gewoben ist. Alle Geräusche dringen so auf eine seltsame Weise gedämpft ans Ohr, als trüge man große Kopfhörer, auf denen keine Musik spielt. Alles wird nebensächlich und folgt der Zeit in den unendlichen Raum der Bedeutungslosigkeit. So geschärft sind die Sinne, dass alle Gedanken in der eigenen, fließenden, ja tänzerischen Bewegung aufgehen auf der Jagd nach dem Ball, und sonst gibt es nichts. Der Junge wirbelt über den Boden und springt über die Beine seiner Mitspieler, dreht sich über dem Ball und ändert die Richtung so unverhofft, als hätte nicht einmal das Universum davon gewusst. Von den Sorgen der späteren Jahre gibt es noch keine Spur, und der Tanz erreicht seinen Höhepunkt, wenn ein Tor fällt wie die geglückte Landung einer schwierigen Pirouette des Eiskunstläufers. Hände werden in den Himmel gereckt und der Torschütze dreht dann ab und fliegt davon wie ein Flugzeug nach dem erfolgreichen Steigflug. Nicht einmal außer Atem sind die Spieler, das Laufen strengt sie erst einige Jahre später an. Das Glück wird dann jäh unterbrochen, wenn die Eltern zum Aufbruch rufen, doch es zittert und kribbelt noch lange in den Fingerspitzen und sogar im Haar und wer davon weiß, der kann es noch eine ganze Weile sehen im federnden Gang der Spieler auf dem Nachhauseweg.

Später verlieren wir diese Gabe. Aber ich habe die Leichtigkeit des Fußballspiels als Kind noch nicht vergessen.* Wenn ich heute den Jungen zusehe bei ihrem Spiel, viele Jahre später, dann ist es beinahe, als säße ich nicht mehr auf der Parkbank, sondern liefe wieder so leicht aus dem Stand wie damals.

So erging es mir am 17. Oktober 2013 in Hongdae in Korea, als ich gedankenverloren aus einer engen Straße hervortrat und der vom Flutlicht erleuchtete Sportplatz vor mir lag, und so war es am 26. August 2014, als die netzlosen Tore und der Rasen am Rande der Fahrradstrecke vorüberzogen auf dem Weg von der Ostsee nach München, und so war es zuletzt in Giovinazzo in Apulien in Italien im September.

[*Ich erinnere mich noch an einige einzelne Begebenheiten, mitunter daran: wie ich einmal mit Christian, mit dem ich mich später unwiederbringlich zerstreiten würde, vier andere auf dem Schulhof besiegte. Wir harmonierten an diesem Morgen wie niemals zuvor und auch nicht mehr später und alles glückte uns. Ich erinnere mich an die Spiele auf der Wiese der Brandsburg an einem Feiertag. Ich sehe mich noch nach dem Ball fliegen als Torwart zwischen den beiden dürren Stämmen der jungen Apfelbäume im Garten bei Torsten, wo heute das neue Haus steht und an das Jahr 1990, als wir dort auf dem Hof lieber selbst Fußball spielten, als dem Halbfinale zuzusehen und dann erst verspätet zum Elfmeterschießen nach oben rannten. Ich erinnere mich an Georg, wie er einmal auf der oberen Wiese des neuen Sportplatzes im Training Anlauf nahm und durch die gesamte gegnerische Mannschaft mähte und den Ball versenkte, und mein Herz sprang vor Freude auf in diesem Moment; nicht nur, weil wir im selben Team spielten, sondern auch weil ihm damals nicht so häufig ein solcher Erfolg im Fußballspiel glückte. Ich erinnere mich auch noch an Riat und Nihad. Der eine organisierte unsere Abwehr mit großem Geschick und ließ keinen gegnerischen Stürmer in die Nähe des Tores vordringen, der andere war nicht mehr aufzuhalten, wenn er einmal Tempo aufgenommen hatte. Es war dann hoffnungslos für die gegnerische Abwehr und ich sah ihm stets bloß hinterher und jubelte dann. Und auch sein rollendes R bei der Ansage seines Geburtsdatum, jener 3.3.1983, habe ich nie vergessen. (Obwohl diese Vorkommnisse viel später stattfanden, wir waren damals schon lange in der Pubertät angekommen.) Ich erinnere mich noch daran, wie wir auf dem Waldsportplatz vor dem Training die Bälle über das Tor in den Wald feuerten und wie wir wieder und wieder liefen, um erneut zu schießen und an manche andere Tage.]

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