Mecklenburg

Die Landschaft war karg und unwirtlich wie die Landschaft in Deutschland im Januar. Alle Farben waren gegangen, geblieben waren nur die Brauntöne der herabgefallenen Blätter im Regen. Die Bäume ragten kahl und grau in den weißen Himmel. Laut dem Radiowecker, den Mobiltelefonen und der Länge der Tage hätte es Sommer sein müssen, doch die modrigen Blätter der Buchen und Eichen knirschten unter den Schuhsohlen wegen der überfrorenen Nässe.

Die Pandemie zog seit mehr als zwei Jahren landauf und landab. In den Städten hatten die Behörden Ausgangssperren verhängt, geholfen hatte es wenig. Seit den Pandemien des Mittelalters, die auch hier, entlang der alten Salzhandelsroute, gewütet hatten, hatte sich wenig verändert. Mit Ausnahme der Spitzenforschung. Jahrhunderte nach der Pest, den Pocken, Typhus, dem Fleckfieber und der Cholera war sie so hochentwickelt, dass die Forscher in kurzer Zeit mRNA-Impfstoffe gegen das Virus entwickeln konnten. Geholfen hatte es nicht. Die probabilistische Wesenart der Welt war der Gesellschaft nicht begreifbar, Desinformation untergrub den Fortschritt und das Virus mutierte. Zu Beginn hatten wir die Meldung der geheimnisvollen Lungenkrankheit in China noch kaum bemerkt, wie gewöhnlich würde es uns genauso wenig betreffen wie die Vogel- und die Schweinegrippe, ZIKA, MERS und Ebola. Es folgte die große Verirrung. Dann blieb uns die Freiheit im Halse stecken.

Die Intensivstationen der Krankenhäuser glichen Pestspitälern. Putin marschierte in der Ukraine ein, doch nicht die Amerikaner oder Europäer, sondern das Virus stoppte die Invasion. Bei den Australien Open gab es keinen Gewinner. Wir waren in etwa zur gleichen Zeit nach den Boosterimpfungen mit unserem Kind auf das Land geflohen, in eine der am kärglichsten besiedelten Landstriche der einst so stolzen Bundesrepublik. Nebel lag über den Hügeln und ausgedörrt ragten einige Sonnenblumen pechschwarz aus dem nassen, braunen Gras. Das Schilf wiegte sanft im Wind und um die Stümpfe kräuselte sich die ansonsten glatte Oberfläche der Seen. Die Stille war gespentisch. Diejenigen, die in der Stadt geblieben waren, hatte das Virus geholt, oder sie waren zu Zombies geworden, die mit leeren Gesichtern durch die Straßen zogen. In den größeren Dörfern verhielt es sich nicht anders.

Die Aktienmärkte brachen erst zusammen und dann handelte niemand mehr. In den Serverparks der Krypto-Miner ging das Licht aus, weil sich niemand mehr dafür interessierte. Manche erwägten, ihre NFT zu essen. Auf Twitter versuchten wir, so zu tun, als wäre alles wie immer.

Erstaunlich war, dass die Versorgung nicht zusammenbrach. Das Mobilfunknetz wurde von Freiwilligen überall dort notdürftig geflickt, wo ein Sendemast zwischenzeitlich den Geist aufgab, und auch die Supermärkte hatten weiter geöffnet, wenn auch mit deutlich geringerem Angebot als zuvor.

Uns betraf all das kaum. Wir schlugen Holz im Wald, lasen die Bücher, die wir mitgebracht hatten mehr als einmal und kochten über dem alten Holzofen in der Küche des Landhauses, dass wir gemietet hatten. Nach einigen Wochen kam niemand mehr, um die Miete abzurechnen, und wir blieben. Wenn wir einmal andere Menschen in der nahegelegenen Kleinstadt trafen, wirkte beinahe alles wie immer, der Nebel und die fahlen Gesichter; auffällig war nur die häufige Entmineralisierung der Zähne der Kinder. Niemand sprach mehr viel.

Die Tage vergingen und der Nebel lichtete sich nicht bis zu einem Tag im November zwei Winter später. Endlos hatte das über dem Land gelegen, von dem die Leute irgendwann nur noch als das Unheil gesprochen hatten. Wann das geschah, ist unklar, irgendwann inmitten der Pandemie war es scheinbar übergangslos so gewesen, das Virus nannte niemand mehr beim Namen.

Als wir zurück in die Stadt gingen, bezogen wir eine Dachgeschosswohnung in Berlin Mitte, finally. Das Leben wagte sich langsam wieder hervor, hier und da sprießte grün ein Unkraut in einem Riss im Beton.

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